Der Vogelwart an der Primaria


Von Mark Riklin


Ein kleines Rätsel: Wer kennt das SBW Haus des Lernens seit 25 Jahren aus der Perspektive des Vaters, Lernbegleiters, Lernhaus­leiters und Kleinaktionärs? Wer hat alle Altersstufen von der Primaria über Secundaria und Unter­gymnasium bis zum Gymnasium durchgespielt? Das Lösungs­wort hat 12 Buchstaben und lautet «Jens Oberbeck». Ausgewählte Stationen aus den letzten 25 Jahren.

Was gibt es Schöneres für einen Ornithologen als ein Natur­schutzgebiet voller Vögel, die sich in verschiedenen Entwick­lungsstadien befinden: Nestlinge, deren Bewegungs­radius noch eingeschränkt ist; Flatter-, Stand- und Gleitvögel, die sich immer mehr zutrauen und neu gewonnene Freiheiten geniessen; Zugvögel, die den Mut haben, die bisherigen Grenzen zu überschreiten und in neue Gefilde zu fliegen.

Naturschutzgebiet für Kinder

Die SBW Primaria ist ein solches Vogelparadies. Eine gestaltete Umgebung, in der Kinder in verschiedenen Entwick­lungsstadien viel Raum und Zeit vorfinden, sich zu entwickeln, jedes auf seine ganz eigene Art und Weise. Eine Landschaft, in der die Bedürfnisse von Kindern wahr­genommen und geschützt werden. Ein Art Natur­schutzgebiet mit einem eigenen Vogelwart, der Orientierung gibt, Entwicklungsräume schafft und schützt, Kinder an der Hand nimmt, an die Sitter führt, ihnen die Wasseramsel oder den Eisvogel vorstellt, die Geschichte des grossen Brachvogels oder der nur 120 Gramm schweren Küstensee­schwalbe erzählt, die im Herbst bis 20'000 Kilometer Richtung Süden fliegt.

Vogelwart auf der Insel Amrum

Darf ich vorstellen? Jens Oberbeck ist sein Name, ausgebildeter Biologe und Geograf, Hobby- Ornithologe, seit 16 Jahren Lernbegleiter an der Primaria, seit 13 Jahren Co-Lernhausleiter. Lange bevor er an die Primaria kam, leistete er als 23-jähriger Student (1986/87) seinen Zivildienst als Vogelwart und Wattführer auf der nordfriesischen Insel Amrum, machte Vogel­führungen, führte bei Hochwasser Monatszählungen durch, lenkte Besucherströme, um Brutgebiete zu schützen. Eine Erfahrung, die er als sinnstiftend erlebte und ihn bis heute auch in seiner pädagogischen Arbeit prägt. Kein Zufall also, dass es an der Primaria keine Klassen oder Jahrgangs­stufen sondern altersdurch­mischte Vogelgruppen gibt: Nestlinge auf der Basisstufe, Flatter-, Stand-, Gleit- und Zugvögel auf der Primarstufe.

Schockerlebnis

Rückblende. Wie es dazu kam, dass der gebürtige Braunschweiger und Student der Universität Freiburg im Breisgau an der Schweizer Seite des Bodensees und schlussendlich an der Primaria landete? Seine erste Stelle als Lehrbeauf­tragter für Geografie (1996) führte ihn an die Kantonsschule St.Gallen, Wohnsitz nahm er mit der damals fünfköpfigen Familie in der Nähe von Romanshorn. Die Suche nach einem Kindergarten-Platz verlief ernüchternd: Der Schnupper­morgen in einem Kindergarten war für den Natur­pädagogen und Anhänger ganzheitlicher Bildungsansätze ein Schock­erlebnis: Alle Kinder mussten dasselbe basteln, das konnte nicht die Umgebung sein, in der sich seine Kinder entwickeln sollten.

Glücksfall

Ein wahrer Glücksfall, hatte mit der Primaria ein paar Monate zuvor eine alternative Basis- und Primarstufe in erreichbarer Nähe eröffnet. Der dortige Schnupper­morgen war das absolute Kontrast­programm: «Zig Kinder winkten mir mit strahlenden Augen in der Remise des Schlosses Horn aus drei Metern Höhe entgegen, wie kleine Äffchen aus Baumwipfeln», erinnert sich Jens Oberbeck mit einem breiten Schmunzeln im Gesicht. Und so kam es, dass Jannick im Januar 1997 mit knapp sechs Jahren in die Primaria eintrat. Die erfrischenden Erfahrungen, die sein Sohn dort machen durfte, kollidierten zusehends mit den eigenen als reiner Wissens­vermittler an einer grossen, anonymen Kantonsschule. Ein innerer Konflikt, der nach einer Veränderung rief.

Legendäres Gespräch mit Folgen

Was liegt da näher, als die Organisation hinter der Primaria zu entdecken? Und so kam es, dass Jens Oberbeck an die Türe der SBW klopfte und seine Bewerbungs­unterlagen an der Romanshorner Hafenstrasse abgab. Bereits eine Stunde später rief das Sekretariat an, der Gesamtleiter der SBW, habe nun Zeit, ihn zu empfangen. Und schon sass er im Wellenzimmer H46. Ein wegweisendes, legendäres Gespräch sei das gewesen, sagt Jens Oberbeck 25 Jahre später: «Auf Anhieb fühlte ich mich willkommen, als ganzer Mensch mit all meinen Facetten. Die Offenheit und der Spirit von Peter Fratton, seine leuchtenden Augen, haben mich sofort fasziniert. Wir haben uns bestens verstanden, waren sofort auf der gleichen Wellenlänge.» Ein Gespräch mit Folgen: ein Vertrag an der damaligen Oberstufe.

Rollen- und Perspektivenvielfalt

Ein Anfang war gemacht, die SBW sollte ihn bis heute nicht mehr loslassen. Es folgten Lehr- und Wanderjahre durch alle Altersstufen und Abteilungen des SBW Haus des Lernens: 1997-2002 als Jahrgangs­betreuer an der Oberstufe in Romanshorn, 1998-2018 als Mitglied des Gründerteams und Lernbegleiter für Geografie am Euregio­Gymnasium (EUG), 2002-2006 als Leiter des Unter­gymnasiums, seit 2006 als Lernbegleiter und seit 2009 als Co-Lernhausleiter der Primaria. Jens Oberbeck kennt die SBW aus dem Effeff, kennt nicht nur deren Einzelteile, sondern das Ganze, vom Kindergarten bis zur Matura, und dies aus verschiedensten Perspektiven als Vater, Coach, Lernbegleiter, Lernhausleiter, Kleinaktionär. Das macht ihm so schnell keiner nach.

Spagat-Situationen

Schon immer tanzte der Allrounder an der SBW auf verschiedenen Hochzeiten, unterrichtete zeitgleich an verschiedenen Abteilungen. Das bedeutete viel Dauerlauf und das herausfordernde Gefühl, tendenziell allem fünf Minuten hinterherzuhinken. Was immer wieder zu Spagat-Situationen führte. An der Primaria noch schnell einen Konflikt klären, ins Auto sitzen und ins Zollhaus fahren, um eine halbe Stunde später am EUG Geografie zu unterrichten. Ein fliessender Rollenwechsel: vom Spiel­kameraden und Leitwolf zum Wissens­vermittler und Horizontöffner, von Hand und Herz zum Kopf. Ein befruchtendes und gleichzeitig kräfteraubendes Spiel.

Lebensmittelpunkt der Familie

Und auch die Familie hielt Schritt. Die Primaria wurde zum zweiten Lebensmittelpunkt der Familie, früher oder später landeten alle an der Primaria. Auf Jannick und Jens folgten in den nächsten Jahren der Reihe nach die jüngeren Geschwister Moira, Moritz und Noah. Es blieb nur eine Frage der Zeit, bis auch Andrea, die Frau von Jens, mit einem Teilzeit-Pensum an der SBW bzw. Primaria landete, von 2011-2015 an der Basisstufe, seit 2018 an der Primarstufe. «Andrea ist über die Jahre zu einer weisen Frau geworden, nicht nur der inzwischen graumelierten Haare wegen», sagt Jens liebevoll über seine Frau und unterstreicht ihre wichtige Rolle an der Primaria. Nun war das Sextett vollständig, die ganze Familie mit der Primaria verwoben, wohl einmalig. Das Thema «Primaria» war so omnipräsent, dass die Kinder den Eltern zeitenweise verboten, zuhause über die Schule zu reden.

Altersgerechte, fliessende Übergänge

Noch einmal zurück zu den Vogelgruppen. Wann der Zeitpunkt für den Wechsel in die nächste Vogelgruppe reif ist, kann ein Kind selbst entscheiden. Mit dem Siebner-Pass kann ein Kind so lange zwischen Basis- und Primarstufe hin und her flattern, bis der richtige Zeitpunkt gekommen scheint. Die Übergänge werden im Rahmen einer kleinen Feier bewusst gemacht, bei der jedes Kind eine Vogelfeder erhält. Am Ende der Primar­schulzeit gehen die Zugvögel auf ein Lamatrekking in der Surselva. Jedes Kind übernimmt die Verantwortung für ein Lama. Con, ein Gipfel auf 1700 Metern, markiert den Übergang vom alten Land der Kindheit in eine neue Lebensphase. Kurz unterhalb des Gipfels bekommt jede/r seine letzte Feder. «Die Natur bietet dabei als Komplizin einen wunderbaren Rahmen, Abschied zu nehmen, loszulassen und Platz zu machen für Neues, um im Lebenskreis den nächsten Schritt zu wagen», sagt der ausgebildete Ritualleiter und Vogelwart.

Kosmische Erziehung

Auch Jens Oberbeck steht an einer Schwelle. All seine Kinder sind flügge geworden, stehen ab dem 1. September ganz auf eigenen Beinen: Jannick (31), der letztendlich einen Master an der ETH gemacht hat und heute zusammen mit einem alten Primariafreund ein Unternehmen leitet, Moira (29) als Primalehrerin, Moritz (26) als Bauzeichner, Noah (22) als Kaufmann im Treuhand- und Immobilien-Bereich. Eine neue Lebens­phase beginnt. Zeit für weitere Schritte und neue Rollen. Zum Beispiel als Dozent für «Kosmische Erziehung». Ende September 2022 findet an der Primaria im Rahmen des Montessori-Diplom-Lehrgangs der Akademie Biberkor/D unter seiner Leitung ein dreitägiger Basiskurs statt. Im Mittelpunkt stehen die «Grossen Erzählungen der Kosmischen Erziehung»: die Geschichten von der Entstehung des Universums und der Entwicklung des Lebens, dem Kommen des Menschen. Der langjährige Natur- und Montessori-Pädagoge freut sich darauf, sein Wissen nun verstärkt in der Erwachsen­enbildung weiterzugeben.

25 Jahre inneres Wachstum

«Der Ammonit ist für mich ein Sinnbild für stetiges Wachsen vom eigenen Zentrum, der inneren Quelle aus – ein Wachsen in immer neue Möglichkeits- und Entwick­lungsräume hinein. Damit diese tiefsinnige Menschen­bildung gelingen kann, braucht es Zutrauen und Vertrauen. Beides habe ich in der SBW immer gespürt. Hier bin ich als authentischer Mensch gefragt, kann ich neben all meinen vielfältigen Qualitäten auch meine Spiritualität einbringen und leben - dafür bin ich sehr dankbar. Kreative und lebendige 25 Jahre voll innerem Wachstum liegen hinter mir. Wichtig war aber auch zu lernen, besser für mich zu sorgen, den Kontakt zur Quelle zu pflegen. So arbeite ich heute nur noch in einem Lernhaus. Fühle mich in der Primaria am richtigen Ort angekommen, genährt von Beziehungen, einer inspirierenden Co-Leiterin, einem tollen Team. Ich geniesse die Fülle und freue mich auf weitere spannende, weitende Jahre an der SBW.»

Jens Oberbeck anlässlich der Ehrung zum 25-Jahr-Jubiläum