Die Primaria-Zeit im Rückspiegel


ST.GALLEN – Nach Abschluss der Primaria wechselte Lea Appenzeller vor drei Jahren an die Oberstufe Blumenau. Seit einem Jahr ist sie an der Kantons­schule St.Gallen mit Schwerpunkt Bild­nerisches Gestalten. Erinnerungen an ihre Zeit an der Primaria.

Freitag­morgen am Ende der Sommerferien. Zurück aus dem Sprach­aufenthalt in Neuchâtel treffen wir uns im Kaffeehaus im St.Galler Linsebühl. Lea Appenzeller (15) hat das Portfolio aus ihrer Primaria-Zeit mitgebracht, in dem die wichtigsten Erlebnisse festgehalten sind. Nach jedem Quartal wird den Kindern eine Fotoauswahl zur Verfügung gestellt, aus der persönliche Schlüsselbilder ausgewählt und kommentiert werden können, die emotionale Essenz sozusagen.

Selbständiges Hüttenbauen

Gemeinsam blättern wir durch vier Primaria-Jahre (2016-2020). Anfangs sei sie fast nur draussen gewesen, habe sich der Wald­kinder­garten bzw. die Waldschule in der Primaria fortgesetzt, die sie bis zum Ende der 2. Klasse in der Notkersegg besucht hat. Besonders in Erinnerung ist ihr der Hüttenbau im steilen Waldgelände Richtung Sitter, wo eine Kindergruppe mit einer vorge­fundenen Platte und Brettern aus der Werkstatt eine Plattform gebaut hatten, als Basis für ein kleines Haus. «Selbständig eine eigene Welt aufbauen, ohne Unterstützung Erwachsener: Uns wurde zugetraut, dass wir das alleine schaffen.», sagt Lea.

Flusswanderungen

Unvergesslich sind für Lea die Freitags­ausflüge, insbesondere die Fluss­wanderungen der Urnäsch entlang, unter Leitung von Jens Oberbeck. «Nicht genau zu wissen, was auf uns zukommt, wieviel Wasser die Urnäsch dieses Mal führt, wie wir heikle Stellen überwinden sollten, hat diese Wanderungen zum Abenteuer gemacht. Gemeinsam mussten wir Lösungen finden, teilweise schwimmen, die Rucksäcke über dem Kopf tragen, all das hat uns zusammen­geschweisst.»

Lama-Trekking

Am Ende der Primaria­zeit folgte dann endlich das legendäre Lama-Trekking in der Surselva. Ein letztes, magisches Abenteuer mit gleichaltrigen Zugvögeln. Ein nächster Schritt auf dem Weg zum Erwachsen­werden. Im Nirgendwo mitten auf einer Waldlichtung haben sich alle ein schönes Plätzchen gesucht, um den Brief zu lesen, den die Eltern geschrieben haben. Eine Mischung aus Trauer und Wehmut, dass ein Lebens­abschnitt zu Ende geht. Gleichzeitig die Aufregung und Vorfreude auf das Neue, die Veränderung. Ein emotionaler Wendepunkt.

Wechsel in die Oberstufe

Und dann der Wechsel in die Oberstufe. «Das lange Sitzen war anfangs gewöhnungs­bedürftig», sagt Lea. Unvergesslich sei der erste Nachmittag mit zwei Lektionen «Kopfrechnen im Sitzen» gewesen. «Wie soll man das nur schaffen», fragte sich Lea insgeheim. Spätestens nach den Herbst­ferien sei der neue Alltag bereits Normalität geworden und Lea hatte sich an den neuen Stil und die Anforderungen der Oberstufe angepasst. «Es war ein riesiger Vorteil für die Eingewöhnung in eine neue, heraus­fordernde Situation, wenn man sich selbst schon gut kennengelernt hat, wozu wir in der Primaria die Möglichkeit hatten.»

Beziehungsschule

Im Rückblick wird Lea noch bewusster, was sie während ihrer Primariazeit alles gelernt hatte, insbesondere im Umgang mit verschiedenen Menschen. «Im Gegensatz zu meiner Zeit an der Oberstufe konnten wir uns nicht aus dem Wege gehen, das Zusam­menleben und die Beziehungen zwischen Kindern und Erwachsenen standen im Mittelpunkt des Alltags. Wir haben intensiv geübt, zusammen­zuarbeiten und Konflikte zu lösen, zu erkennen, was uns gut tut und was nicht, uns abzugrenzen und für uns selbst einzustehen.» Oder in den Worten der Pfaderin «Candle»: «In der Pfadi lernen Kinder das, was ich in der Primaria längst gelernt hatte.»


Glückliche Töchter

Anlässlich des diesjährigen Primaria-Festes blickte Roland Unternährer Appenzeller zurück auf sieben Jahre «Primaria», die seine beiden Töchter Lea und Franca erlebt haben.

Was die Primaria gebracht hat? «Zwei glückliche Töchter, die wie erhofft viel Zeit und Raum bekommen haben, um sich zu entfalten, eigene Projekte zu entwickeln, selbsttätig und selbst­wirksam zu werden, sich selbst besser kennen­zulernen, die Grundlage eines gelingenden Lebens.»

Was ihn besonders beeindruckt hat? «Dass die Leitung der Primaria allen Spannungen und Widerständen zum Trotz an der eigenen Idee und Haltung festgehalten hat, Kindern einen möglichst freien und ganzheitlichen Entwicklungs­raum zu bieten.»

Was er der Primaria für die Zukunft wünscht? «Möglichst offene und geduldige Eltern.»