
ST.GALLEN – «Spielen ist Experimentieren mit dem Zufall», soll Novalis einst gesagt haben. Im digitalen Zeitalter ist beides bedroht, das Spiel und der Zufall. Im Rahmen einer Weiterbildung zum Jahresthema «Rettet das Spiel» startete das Team der SBW Primaria den Versuch, das Leitmotiv des deutschen Philosophen möglichst wörtlich zu nehmen. Ein doppelter Rettungsversuch.
Von Mark Riklin
09:00 Uhr, Start in der Lokremise. Schon bei der ersten Station an der Spiegel-Bar des Schweizer Konzeptkünstlers John Armleder hat Meister Zufall die Hände im Spiel. Dass von 15 Barhockern vierzehn rot und nur einer gelb ist, kann ja wohl kein Zufall sein. Wer hingegen auf dem gelben Barhocker Platz nimmt, schon eher. Oder doch nicht? Naheliegend ist, dass der gelbe Barhocker mit einer besonderen Rolle verbunden ist. Joker vielleicht, Perspektivenwechslerin oder Resonanzgeberin?
Komplizinnen des Zufalls
Ginge es nach dem Kreativitäts-Forscher Edward de Bono wäre der Fall klar, sein gelber Hut steht für realistischen Optimismus. Verwoben mit den Besonderheiten des zufälligen Gastes, der erst seit kurzem zum Team gehört, entsteht die Rolle des «frischen Blicks von aussen». Weitere Rollen werden vorgestellt: ein «Reiseführer des Zufalls», der die einzelnen Versuche arrangiert; ein «Fotograf des Zufalls», der das Zu-fällige mit seiner Kamera einzufangen versucht; und acht «Komplizinnen des Zufalls», die den Zufall wohlwollend wahrnehmen, mit offenen Armen empfangen und retten wollen.
Argumente im 180-Sekunden-Takt
10:15 Uhr, Zeit zum Aufbruch. Das Team der Primaria verlässt die Lokremise mit dem Vorsatz, als verspieltes Kind durch den Tag zu spazieren, die Stadt mit offenen Sinnen zu entdecken, die kleinen Details und Zu-fälle am Rand des Weges wahrzunehmen. Im 5. Stock der Ostschweizer Fachhochschule wartet ein erster Versuch: In einem Elterngespräch mit drei zufällig gewürfelten Icons argumentieren, weshalb das freie Spiel für Kinder von existentieller Bedeutung ist. Das Prinzip der zufälligen Stimulation eröffnet neue Möglichkeitsräume und lässt in 180 Sekunden überraschende Argumentationsmuster entstehen. Der Würfel als bewährtes Mittel, Muster zu brechen und den Sprung aus der eigenen Denk-Box zu schaffen.
Travelling outside the Box
11:00 Uhr, Hintere Davidstrasse. Umwege erhöhen die Ortskenntnis. Auf Schleichwegen über Hintergassen und Hinterbühnen gelangt die Gruppe zur Stadtlounge und nimmt am roten Tisch des öffentlichen Wohnzimmers Platz, um sich von bisher unbekannten Disziplinen anregen zu lassen, wie man Städte auch noch entdecken könnte: Maximal-Busfahren, Desorientierungslauf, Beschattungen, Wohnungsbesichtigungen etc. Der Reiseführer des Zufalls zaubert aus den scheinbar endlosen Tiefen seiner Gilet-Tasche Würfel aller Art, um einen nächsten Versuch zu lancieren: Die Anzahl gewürfelter Augen entscheidet über Richtungswechsel oder Aufgaben, die einem selbst gestellt werden. Und schon hüpft eine erste Spielerin an einem Büro vorbei und lässt die Hälfte der Belegschaft mithüpfen. Verspieltheit wirkt ansteckend.
Berta Müllers Kellerabteil
11:45 Uhr, Frongartenstrasse. Der nächste Treffpunkt hat es in sich: In einem Mehrfamilienhaus bei Berta Müller klingeln, sich unauffällig in den Keller schleichen und das «Büro für positive Streiche» aufsuchen, so die Regieanweisung. Während sich die ersten im Kellerabteil eingefunden haben und auf Klappstühlen warten, bis alle da sind, flaniert eine Spielerin am Kellerfenster vorbei, rückwärts – einer der stillen Höhepunkte der kleinen Reise des Zufalls. Inspiriert von der Idee «Random Acts of Kindness» machen sich die Primaria-Leute auf den Weg, zufälligen Passanten ein Kompliment zu machen oder eine Lindor-Kugel anzubieten, einem Busfahrer für seine Arbeit zu danken oder im «Gentile» einen Prosecco für den nächsten Gast vorauszubezahlen, um dem Namen des Restaurants gerecht zu werden.
Zufalls-Variationen auf dem Teller
12:15 Uhr, Zeit zum Mittagessen. Vor dem Tibits werden Ideen ausgetauscht, wie das «Experimentieren mit dem Zufall» bei der Menuwahl an der Buffet-Insel weitergehen könnte: nur jede dritte Zutat oder als Hommage an die Barhocker in der Lokremise nur rote und gelbe Tid-bits auswählen? Nach dem genussvollen Verzehr der Zufalls-Variationen beginnt die Verdauungsphase, auf allen Ebenen. Der Fotograf des Zufalls erzählt vom Erlebnis, sich vom Blick anderer lenken zu lassen und die Welt durch die Brille des Zufalls wahrzunehmen; eine Nachwuchs-Spielerin berichtet, wie sie aus allen Anregungen eine eigene Version machte; und der «frische Blick von aussen» stellt mit Erstaunen fest, dass ihr diese Art von Weiterbildung bisher unbekannt war.