200 Jahre lang wurde im Restaurant Stocken (1811-2011) gewirtet. Nach dem letzten Pächterabgang stand das legendäre Gasthaus vier Jahre lang leer, bis die SBW Primaria dem denkmalgeschützten Haus im Sommer 2015 neues Leben einhauchte und mit dem Stocken-Bistro in regelmässigen Abständen an die alte Tradition erinnert. Als Gastgeber:innen fungieren 6- bis 13jährige Kinder. Ein beeindruckendes Beispiel handlungsorientierten Lernens.
Von Mark Riklin
ST.GALLEN – «Herzlich willkommen im Stocken-Bistro», empfängt mich Yaro Weber mit erfrischender Stimme am Eingangstor zum Gasthaus des Lernens. Wieviele Gäste heute etwa erwartet werden, frage ich den 9-jährigen Mitarbeiter im schicken Kellner-Look. Etwa 70, sagt Yaro, um die optimistische Prognose wenig später etwas runterzukorrigieren.
Zwischen Gumpiraum und Gaststube
Ich nehme in der denkmalgeschützten Gaststube des ehemaligen Restaurant Stocken Platz, bevor ich mein Gespräch mit Yaro fortsetzen möchte. Schichtwechsel am Eingangstor. Yaro ist bereits auf dem Weg in den Gumpiraum, um sich kurz auszutoben, bevor seine wichtigsten Gäste eintreffen, die er persönlich bedienen will. Wenig später ist es soweit. Yaro’s Mutter trifft ein und füllt mit ihren Freunden einen ganzen Tisch. Gut hat Yaro Unterstützung von seinem jüngeren Bruder Ilay (7), um alle Bestellungen in nützlicher Frist aufzunehmen.
Handlungsorientiertes Lernen
Mein Platz fällt in den Service-Bereich von Marcin Merz (11), der mich mit Fliege und weissem Hemd bedient und nie aus den Augen lässt. Der Reihe nach serviert er mir mit grosser Sorgfalt Apfelschorle, Kürbissuppe, Gehacktes mit Hörnli und Apfelmus – im Hintergrund diskret unterstützt von Lernbegleiterin Rebekka Eigenmann, Chef de Service. Zum Abschluss schiebt Marcin den Dessertwagen in meine Richtung, lässt mich grosszügig Vanille-Glacé schöpfen und bringt mir die Rechnung. Und dies alles mit viel Stil und Hingabe. «Im Stocken-Bistro wird Gastgebertum, Auftrittskompetenz und angewandte Mathematik in einem gelernt», sagt Lernhausleiterin Judith Kühne Streuli. Ein beeindruckendes Beispiel handlungsorientierten Lernens.
Drei Zimmerstunden
In einem ruhigen Moment erzählt mir Yaro, dass er den gestrigen Zukunftstag im St.Galler Restaurant «Zum goldenen Schäfli» verbrachte. Waldpilze zuschneiden, Salt & Caramel Glacé vorbereiten, anschliessend im Mittags-Service aushelfen. Mega müde sei er von dem vielen Laufen gewesen, sagt er. Nach drei Zimmerstunden war er bereits wieder bereit für den Abend-Service. 52 Franken Trinkgeld habe er bekommen, sagt er stolz. Im Hauptberuf möchte er allerdings Modedesigner werden, Kellner allenfalls als Hobby im Nebenamt. Die ersten Tests hat er mit Bravour bestanden.